Pilgern und Spiritualität

Die Faszination des Pilgerns für den modernen Menschen ist vielschichtig. 

Im Kern gründet sie in der Sehnsucht, dem Mysterium Gottes zu begegnen. Es ist die Attraktivität des „ganz anderen“, die Junge und Alte aus ihren festen Lebenszusammenhängen herauslockt in einen Ausnahmezustand, in ein zeitlich begrenztes Vagantentum.’ 

(Jens Gundlach)

Im Judentum, im Christentum und im Islam kennt man die Wallfahrt: die Reise zu einem heiligen Ort, an dem Gott besonders kräftig wirkt. Menschen brechen aus ihrem Alltag auf und reisen. Sie verlassen ihre Handel und Wandel, ihren Broterwerb, ihren Beruf, ihren Hof, ihre Familie. Sie vertrauen für den Weg auf Gottes Geleit, haben keinen Schutz und meist wenig Geld für die weite Reise.

Von Anfang an waren für die Christen Jerusalem als Ort des Wirkens Jesu Christi und Rom als Ort der Märtyrer und der Verehrung der Heiligen Wallfahrtsziele. Im Mittelalter kam Santiago de Compostela hinzu, der Ort, an dem man den Heiligen Jakobus d.Ä. verehren konnte. Diese Wallfahrten verhießen dem mittelalterlichen Christen Nachlass ihrer Sünden. Es ist beeindruckend, wie die Sorge um das Verhältnis zu Gott den Menschen auf den Weg gebracht hat.
Und heute? Pilgerschaft entsteht oft unterwegs. Die spirituelle Bedeutung einer Kirche am Wege wird unterwegs intensiver. Sinneseindrücke werden tiefer und lebendiger. Wahrnehmungen werden schärfer. Mancher Gedanke, der von den Sorgen des Alltags verdeckt war, darf nun gedacht werden. Unterwegs sein, nachdem man so lange im Alltag eingespannt war.

Die Bedeutung der Pilgerschaft liegt ganz wesentlich auch darin begründet, dass sie ein klares Ziel hat. Es geht darum einen Ort zu erreichen. Es geht aber auch darum, ihn auf eine bestimmte Art und Weise zu erreichen: zu Fuß, mit dem Rad, zu Pferd, mit dem Schiff- jedenfalls langsam.

Und Langsamkeit führt zu Vertiefung, zu Verdichtung. Vertiefung führt nach unten zu den Wurzeln und dort beginnt die Religion. Mit den Fragen nach unserem Sein und Werden, nach unserem Woher und Wohin.

Mit der Frage nach dem Sinn dessen, was mein Leben ausfüllt und danach, ob das für die Zukunft gültig bleibt. Die Art und Weise mit der das Ziel angestrebt wird, eröffnet äußerlich und innerlich neue Horizonte.

Abbildung: Stadtwappen mit Hl. Jakobus, Ev. Jakobuskirche Hettstedt

Was hat die evangelische Kirche mit Jakobus und der Pilgerschaft zu tun?

Dass sich die katholische Kirche für den Pilgerweg einsetzt, ist verständlich. Hier ist die Pilgertardition ja nicht unterbrochen gewesen.
Aber wie verstehen sich denn evangelische Christen auf dem Weg nach Santiago? Für die evangelische Kirche sind die Heiligen Vorbilder, an denen wir uns im Glauben orientieren können. Sie haben mit ihrer ganzen Existenz für den Glauben an Jesus Christus eingestanden. Als Vorbilder haben sie dadurch eine große Bedeutung. Die Erfahrung der Landschaft und des Ortes, an dem sie gewirkt haben, hilft zu einem vertieften Eindruck. Die Kirchen mit den Reliquien der Heiligen, mit den Spuren des Glaubens, der Feier der Gottesdienste und der Kraft des Gebetes entfalten ihre eigene Kraft.